Bezzecchi: Ein MotoGP-Neuling “braucht ein Jahr, in dem er den Kopf frei hat”
Marco Bezzecchi hat eine hervorragende erste MotoGP-Saison hinter sich. In dieser hat sich der junge Italiener im Ducati-Satellitenteam VR46 nicht aus der Ruhe bringen lassen. Der 24-jährige Absolvent der VR46-Akademie von Valentino Rossi weiß, dass er sehr günstige Bedingungen genießt.
Mit seiner Fahrt in die erste Startreihe beim Italien-Grand-Prix in Mugello, seinem großartigen Podestplatz beim Niederlande-Grand-Prix in Assen, wo bis ins Ziel am siegreichen Ducati-Werkspiloten und späteren Weltmeister Francesco “Pecco” Bagnaia dranblieb, und mit seiner ersten Poleposition beim Thailand-Grand-Prix in Buriram hat sich Bezzecchi von seiner besten Seite gezeigt.
Rückblende: Am 18. November 2021 war es ein ängstlicher Marco Bezzecchi, der in Jerez seinen ersten Test auf der Ducati GP21 absolvierte, die ihm für den Einstieg in die Königsklasse anvertraut worden war. Ein Jahr später hat er seine Angst abgelegt. Er hat die ihm eigene Gelassenheit zurückgewonnen und ein erfolgreiches erstes MotoGP-Jahr abgeschlossen.
Wenn es sich Bezzecchi in der Saison 2022 zum Ziel gesetzt hatte, die anderen Rookies zu schlagen, dann “ohne großen Stress”. Er zog es vor, lieber mit kleinen Schritten sukzessive voranzukommen anstatt seinen Fahrplan über den Haufen zu werfen. Nach jedem Rennen listete er zusammen mit Crewchief Matteo Flamigni alles das auf, was er gelernt hatte. Und er legte Wert darauf, das Gelernte zu behalten und umzusetzen.
Als Mitglied der VR46-Akademie und Stammfahrer in Rossis MotoGP-Team weiß Bezzecchi genau, wie glücklich er sich schätzen darf, in einem Umfeld ohne Druck seine ersten Schritte in der Königsklasse gemacht zu haben. Ein Jahr zuvor hatte er es trotz eines ersten MotoGP-Angebots (von Aprilia) vorgezogen, noch eine weitere Moto2-Saison bei VR46 dranzuhängen.
Als ein großer Befürworter von mehr Zeit für Rookies, genoss der Mann, der schon im Alter von 15 Jahren von Rossi unter Vertrag genommen wurde und der von Casey Stoner in der Moto2-Klasse entdeckt wurde, den Luxus, sich in seinem eigenen Tempo zu bewegen – ohne Angst haben zu müssen, seinen Platz im Team für 2023 zu verlieren.
In seiner üblichen Bescheidenheit spricht Bezzecchi im Interview für die französischsprachige Ausgabe von ‘Motorsport.com’ ausführlich über seine erste MotoGP-Saison und darüber, wie gut es für jeden Rookie wäre, die Möglichkeit zu haben, unter den gleichen Bedingungen wie er selber zu lernen.
Frage: Marco, vor einem Jahr hattest du deinen ersten MotoGP-Test. Nach dem hast du dich damals “äußerst beeindruckt und ein bisschen ungläubig” geäußert. Hast du dich ein Jahr später inzwischen daran gewöhnt, ein MotoGP-Pilot zu sein oder kneifst du dich noch immer jeden Morgen beim Aufstehen?
Marco Bezzecchi: “Ich habe mich ein bisschen daran gewöhnt! Wenn man das ganze Jahr über fährt, wird es ein bisschen normaler. Aber es fühlt sich immer noch ein wenig seltsam an, vor allem jedes Mal, wenn ein Rennwochenende beginnt und ich zum ersten Mal auf das Motorrad steige.”
“Es fühlt sich immer noch ein bisschen merkwürdig an, weil das Bike wirklich unglaublich stark ist. Letztendlich ist die Rolle eines [MotoGP]-Fahrers etwas, woran ich mich gewöhnen kann. Das Schönste aber ist das Motorrad, und zum Glück gibt es mir immer noch jedes Mal ein tolles Gefühl. Das ändert sich nie.”
Frage: Allgemein betrachtet war 2022 eine sehr schwierige Saison für die Rookies. Du aber hast diese erste Saison mit einer beeindruckenden Leichtigkeit gemeistert. Was war dein Geheimnis?
Bezzecchi: “Zu Beginn, nach dem ersten Test, hatte ich Schwierigkeiten. Es fühlte sich anfangs sehr seltsam an. Alle waren schneller als ich und ich war wirklich langsam. Aber ich habe dieses Jahr einen sehr guten Ansatz gewählt.”
“Der erste Test war nützlich, um zu verstehen, woran ich sowohl körperlich als auch fahrerisch arbeiten muss, um so viel wie möglich lernen zu können. Es ging nicht darum, ein Kunststück zu vollbringen, sondern zu verstehen, was ich tue. Und das war nützlich für die Saison. Ich habe es geschafft, das gut umzusetzen. Jetzt bin ich recht konkurrenzfähig.”
Frage: Hattest du das Gefühl, dass du im Vergleich zu den Rookies des Jahrgangs 2021 weniger unter Druck standest, da du mehr Zeit zum Lernen hattest als sie damals? Womöglich wurden an dich auch weniger große Erwartungen gestellt als an andere?
Bezzecchi: “Ich glaube, ich hatte den gleichen Druck wie die anderen. Letzten Endes hat man als Fahrer, und auch im Sport allgemein, leider immer großen Druck. Es ist nun mal so, dass man nur bleibt, wenn man Ergebnisse erzielt.”
“Die Akademie, Ducati und das Team – all die Leute, die an mich geglaubt haben – erwarteten gute Rennen gute Ergebnisse und gute Fortschritte von mir. Somit gab es tatsächlich Druck. Trotzdem habe ich versucht, mich nicht zu sehr von der Außenwelt unter Druck setzen zu lassen, also von Journalisten, vom Fernsehen und so weiter. All diese Dinge habe ich versucht, so gut es ging von mir fernzuhalten.”
Frage: Du wirkst generell sehr ruhig und ausgeglichen. Bist du das wirklich oder täuscht der Eindruck?
Bezzecchi: “Nein, ich bin so. Ich versuche, bei gewissen Dingen so cool wie möglich zu sein, während ich bei anderen ganz anders bin. Was diesen Teil unseres Jobs anbelangt, bin ich so. Ich versuche immer, ein wenig Abstand zu halten, um mich selber zu schützen.”
Frage: Hat dir das geholfen, in schwierigen Abschnitten deiner Karriere nicht zusammenzubrechen?
Bezzecchi: “Ja, es hilft. Das Problem ist nur, dass der Druck genauso groß ist, wenn man gut ist wie wenn man nicht gut ist. Wenn man gut ist, erwarten die Leute immer mehr von einem. Und wenn man nicht gut ist, dann geben die Leute sehr schnell Kommentare ab, ohne unbedingt zu wissen, wie die Dinge laufen.”
“Das ist in allen Sportarten so, auch in unserer. Wir müssen es meiner Meinung nach schaffen, die beiden Aspekte zu trennen: das Motorradfahren auf der einen Seite und den Rest des Jobs auf der anderen. So gesehen hilft mir meine Art sehr.”
Frage: Junge Fahrer, die in die MotoGP-Klasse aufsteigen, scheinen heutzutage immer weniger Zeit zu bekommen, um sich eingewöhnen und beweisen zu können. Ist das etwas, was dich schockiert?
Bezzecchi: “Meiner Meinung nach verdient ein Fahrer mindestens zwei Jahre, immer! Egal, wer der Fahrer ist und in welcher Klasse, es gibt immer einen Anpassungsprozess. Es gibt Fahrer, die sich rasch anpassen und andere, die länger brauchen. Man kann in einer Klasse schnell sein und in einer anderen nicht. Aber meiner Meinung nach verdienen es die Fahrer, mindestens einen Vertrag für zwei Jahre zu bekommen.”
Frage: Heutzutage werden die Verträge in der Regel schon mitten in der Saison unterschrieben. Die Rookies bekommen also manchmal nur eine halbe Saison, bevor sie direkt wieder nach Hause geschickt werden. Als Neuling spürt man doch sicherlich nicht zuletzt aus diesem Grund großen Druck, oder?
Bezzecchi: “Ich hatte das Glück, einen [Zweijahresvertrag] von meinem Team zu bekommen. Wir haben im Winter viel darüber gesprochen, weil ich Zeit brauchte, um zum Beispiel in Ruhe die Fehler machen zu können, die man zu Beginn leider macht.”
“Ich hatte am Anfang Glück, weil [VR46-Teamchef] Uccio, die Leute aus der Akademie und auch Ducati mir die Möglichkeit gegeben haben, diese zwei Jahre zu haben. Andere hatten diese Chance nicht. Meiner Meinung nach braucht vor allem ein Rookie ein Jahr, in dem er den Kopf frei von diesen Dingen und sich auf das Lernen konzentrieren kann. Im zweiten Jahr muss er dann natürlich Leistung bringen.”
Frage: Die MotoGP-Klasse ist heutzutage extrem ausgeglichen. In der Saison 2022 gab es sieben unterschiedliche Sieger, vierzehn Fahrer auf dem Podium und zehn Polesetter. Wie schafft man den Spagat zwischen Konstanz und Risiko, das es für einen Podestplatz oder einen Sieg braucht? Gerade dir fehlte es in den kleinen Klassen ein bisschen an Konstanz, nicht wahr?
Bezzecchi: “Ich glaube, das gilt nicht nur für die MotoGP-Klasse, sondern um alle Klassen. In der Moto3-Klasse hatte ich zwei gute Saisons. Besonders die zweite war gut. Aber in der Schlussphase der Saison wurde ich zweimal in Stürze verwickelt und habe viele Punkte verloren. Abgesehen davon habe ich während der Saison auch selber ein paar Fehler gemacht.”
“Es kann passieren, dass man zwei oder drei [Fehler] macht, wobei das heutzutage vielleicht schon zu viel ist. Natürlich gibt es Ausnahmefälle, wie ‘Pecco’, der dieses Jahr viele Fehler gemacht hat, aber unterm Strich so viele Rennen gewonnen hat, dass er sie wettmachen konnte.”
“In der modernen MotoGP-Ära ist es definitiv wichtig, konstant zu sein, genau wie in allen anderen Kategorien auch. Das wird nächstes Jahr mit zwei Rennen an jedem Wochenende noch wichtiger sein. Das ist etwas, woran man arbeiten muss. Wenn es mal nicht perfekt läuft, muss man versuchen, ein Ergebnis ins Ziel zu bringen. Auch ich versuche daran zu arbeiten, um in bestimmten Situationen die Ruhe zu bewahren.”